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Lehrermangel in Brandenburg – Schulleiterin spricht Klartext: „Die ganze Situation macht uns Lehrern Angst“

MAZ vom 19.06.2023

Der Lehrermangel in Brandenburg hinterlässt Spuren: Viele Schüler haben jetzt schon große Defizite in Mathe und Deutsch. Schulleiterin Anke Koch aus Rathenow plant deshalb, den Kunst- und Musikunterricht ihrer Schüler zu kürzen, damit sie überhaupt noch hinterherkommen.

Anke Koch ist Schulleiterin am Jahngymnasium in Rathenow. © Quelle: Markus Kniebeler

Anke Koch ist Schulleiterin am Jahngymnasium in Rathenow. © Quelle: Markus Kniebeler

Rathenow. Anke Koch leitet seit zwölf Jahren das Jahngymnasium in Rathenow. Den bundesweiten Lehrermangel spürt sie seit Jahren. Im Interview mit der MAZ spricht sie darüber, was das für ihren Alltag bedeutet und warum sie sich große Sorgen um die Bildung ihrer Schülerinnen und Schüler macht.

Frau Koch, wie macht sich der Lehrermangel in Ihrem Alltag als Schulleiterin bemerkbar?

Die Suche nach Lehrerinnen und Lehrern gestaltet sich immer schwieriger. Seit fünf Jahren suchen wir eine Musiklehrkraft. Aber es bewirbt sich keine ausgebildete Lehrkraft auf die Stelle. Uns fehlt auch eine Mathematik– und Physiklehrkraft. Falls sich einmal ein Absolvent auf eine Stelle bewirbt, kann man sicher sein, dass er noch fünf Angebote von anderen Schulen hat. Mittlerweile müssen wir Schulen uns bei den zukünftigen Lehrkräften bewerben – früher war das andersherum.

Was unternehmen Sie, um den angehenden Lehrern Ihre Schule in Rathenow schmackhaft zu machen?

Es gibt Bewerber, die haben ganz genaue Vorstellungen. Die wünschen sich zum Beispiel eine verkürzte Arbeitszeit oder wollen den einen freien Tag in der Woche haben. Da versuchen wir, im Rahmen unserer Möglichkeiten Wünsche zu erfüllen, ohne dass daraus Nachteile für die Kolleginnen und Kollegen entstehen. Aber ich muss auch sagen, dass wir hier im ländlichen Raum einen Nachteil haben. Die meisten Absolventen suchen eine Stelle in Potsdam oder in der Nähe. Weiter ins Umland zieht es sie erst später, wenn sie vielleicht eine Familie gründen wollen und bezahlbaren Wohnraum oder bezahlbare Grundstücke suchen.

Lehrermangel: Ehemalige Schüler helfen aus

Wie gleichen Sie die fehlenden Stellen aus?

Meistens mit Vertretungslehrkräften, die aber eigentlich keine sind. Wir haben ehemalige Schülerinnen und Schüler, die in Potsdam auf Lehramt studieren, und in zwei siebten Klassen Mathematik und Deutsch unterrichten. Aber wenn auch das nicht geht, müssen wir die Unterrichtszeit reduzieren. Dann gibt es eben nur drei Stunden Mathematik, anstatt vier. Wir versuchen, die verlorenen Schulstunden so gut es geht nachzuholen, aber das gelingt uns nicht immer.

Merken Sie jetzt schon, dass die Qualität des Unterrichts darunter leidet?

Ja, natürlich. Der Lehrkräftemangel bringt viel Unruhe in den Schulalltag. Manchmal müssen wir unseren Stundenplan ganze neunmal im Jahr umstellen – darunter leiden sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrkräfte. Das Problem fängt aber nicht erst bei uns im Gymnasium an. Wir merken jetzt schon, dass die Kinder enorme Lerndefizite haben, wenn sie von der Grundschule zu uns wechseln.

Das heißt?

Vielen fehlen die Grundlagen – das Leseverständnis, die Rechtschreibung und die Grundrechenarten. Wir haben oft große Probleme, die Kinder von der siebten bis zur zehnten Klasse fit für die Prüfungen zu machen. Deshalb überlegen wir jetzt, die Stundentafel umzustellen und Fächer wie Kunst oder Musik zu kürzen, um mehr Mathematik und Deutsch zu unterrichten.

Angesichts all dieser Probleme – wie ist die Stimmung im Lehrerzimmer?

Es gibt Zeiten, da kommen die Lehrkräfte aufgrund der hohen Arbeitsbelastungen wie Klausuren, Klassenarbeiten, Prüfungen in Klasse 10 und 12 an Grenzen. Die psychische Belastung der Lehrkräfte hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Es stresst natürlich ungemein, wenn man immer wieder einspringen muss oder Stundenpläne sich verändern oder ich neue Klassen mitten im Schuljahr übernehmen muss. Und über die 37 zusätzlichen Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine, die wir unterrichten, haben wir noch gar nicht gesprochen.

Quereinsteiger in Schulen vor Einsatz ausbilden, nicht berufsbegleitend

Stimmt, das bindet noch einmal zusätzlich Lehrkräfte.

Ich finde es richtig, dass diese Kinder einen geregelten Tagesablauf haben. Aber es ist komplett utopisch zu denken, dass wir die ukrainischen Schülerinnen und Schüler hier zum Abitur bringen werden. Das mag in Einzelfällen klappen, aber nicht bei allen. Wir bringen ihnen Deutsch bei, aber in Fächern wie Biologie oder Geschichte sind die Sprachbarrieren einfach zu groß. Da kommen die Kinder noch nicht mit.

An den Grundschulen werden viele leere Stellen mit Quereinsteigern besetzt. Hat das auch einen Einfluss auf die Unterrichtsqualität?

Die Quereinsteiger stehen bei uns an Tag 1 vor der Klasse – ohne eine didaktische oder pädagogische Ausbildung. Das ist nicht nur für die Quereinsteiger selbst überfordernd, sondern auch für die Kolleginnen und Kollegen, die sie betreuen. Meines Erachtens müsste eine Qualifizierung vor dem Einstieg an der Schule stattfinden und nicht erst berufsbegleitend.

Das Land Brandenburg setzt große Hoffnung in die Quereinsteiger. Ihnen wird sogar eine Verbeamtung in Aussicht gestellt. Was halten Sie davon?

Das kommt natürlich auf die Abschlüsse an, die die Betreffenden mitbringen. Wir haben zwei Quereinsteiger, die aufgrund ihres Studiums ein berufsbegleitendes Referendariat gemacht haben und nun bei uns unterrichten. Diese Kolleginnen und Kollegen bringen frischen Wind und andere Perspektiven in die Schule, was sich sehr positiv auswirkt.

„Die Ausbildung muss praxisnäher werden“

Neben den Quereinsteigern – welche Lösungen halten Sie noch für sinnvoll, um den Lehrermangel einzudämmen?

Dafür habe ich auch kein Rezept. Den Lehrermangel werden wir zeitnah nicht beseitigen können. Kurzfristig könnte man reagieren, indem man flexiblere Arbeitszeitkonten einführt und Überstunden bezahlt, anstatt sie mit eventuellen Ausfallstunden über drei Monate zu verrechnen. Eine mittlere Managementebene und Beförderungsämter in Schulen wären Anreize in Brandenburg Lehrer oder Lehrerin zu werden. Das haben uns andere Bundesländer voraus. Gleichzeitig muss die universitäre Ausbildung der Lehrkräfte verändert werden. Da spielt die Schule viel zu spät eine Rolle.

Was schlagen Sie vor?

Die Ausbildung muss viel praxisnäher werden, damit die Abbrecherquote sinkt. Im Moment sitzen angehende Mathematiklehrer mit Kommilitonen in einem Seminar, die vielleicht irgendwann einmal Algorithmen für Banken konzipieren werden. Natürlich ist die fachliche Ausbildung wichtig, aber die Studierenden müssen früher in die Schulen und vor die Klassen, damit sie sehen, wofür sie studieren.

Wissen Sie trotz all der Probleme noch, wofür Sie das alles machen?

Ja, ich gehe trotz allem Stress gerne zur Arbeit in meine Schule. Ich bin zwar eine Beamtin, aber ich komme aus einer Unternehmerfamilie. Meine Eltern hatten kleine Unternehmen und mein Mann führt ebenfalls ein ansässiges Unternehmen. Da gibt es für mich kein Aufgeben. Ich suche immer nach Lösungen. Ich will, dass sich hier Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler wohlfühlen und sich weiterentwickeln können. Sorge macht mir, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in ein paar Jahren in den Ruhestand gehen. Die ganze Situation macht uns Lehrkräften wirklich Angst. Es geht hier schließlich um die Zukunft der Kinder, die unser aller Zukunft sind.

von Lena Köpsell